Montag, 18. August 2014

Riesling Hochäcker 1994 Josef Nigl, Senftenberg, Kremstal

In einem (!) künstlerischen Bereich lag
das Alpenland vor Arkadien: bei der Holzschnitzerei.
Die 500-jährigen Meisterwerke
von Michael Pacher, Leonhard Astl und
Tilman Riemenschneider sind einzigartig,
etwa der transzendente Schmerz des
Gekreuzigten in Hallstatt (Astl) oder die
Sinnlichkeit Mariens mit dem Medusenhaar
in St. Wolfgang (Pacher).
Ähnlich verhält es sich mit Rheinrieslingen.
Die besten dieser Welt wachsen
nördlich der Alpen. Unser gereifter Wein
hat einen zarten, eleganten Alterston,
dahinter evolvieren sich Düfte nach Steinobst
und Sommerwiese; die stimmige und
filigrane Botrytis wirkt wie ein Parfumtropfen.
Geradezu ambrosianisch ist die
verspielte Cremigkeit. Die ölige Essenz
beinhaltet unfassbares Extrakt (dies bei
12,5 % Alkohol!). Ab 14 °C Weintemperatur
werden weitere Geheimnisse preisgegeben:
Karamell, Kokos, später dann auch
rauchige Anklänge.
Unser Göttertrunk lädt zum Genießen und
Philosophieren ein. Ich tat beides und las
nach dem magnumbegleiteten Dinner am
Weingut Karl Gaulhofers Essay (Presse-
Feuilleton) zum 200. Geburtstag von Søren
Kierkegaard. „Entweder – Oder“ proklamiere
das radikale Pathos der Freiheit.
Bei meiner Lektüre des Werkfragmentes
„Das Tagebuch des Verführers“ fragte ich
mich stets, warum
so viel Raffinement und
Seelenkenntnis zu so wenig fassbarem
Lebensextrakt führen. Kierkegaard starb,
will man seinen Biographen glauben, einsam
und verbittert, dies (zweifellos) als
Folge seiner freien Lebensgestaltung. Er
fand neue Denkwege, indem er die Existenz
des Menschen in der Zeit untersuchte
und damit die Grundlage für erregende
geistige Abenteuer des 20. Jahrhunderts,
etwa Sartres Existentialismus oder Heideggers
Fundamentalontologie,
schuf.
Ob Weintrauben, Lindenholz oder Worte:
Einige Menschen haben die Gabe, sie mit
ihrem Genie so zu formen, dass sie dauerhaft
zu inspirieren vermögen.